Die Suche nach unseren Urmüttern

SchülerInnen der MBO beteiligen sich seit 2008 an einem molekulargenetischen internationalen Science-Projekt zur Erforschung der steinzeitlichen Besiedlungsgeschichte der Menschheit.

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Als vor gut zehntausend Jahren Menschen im Gebiet des heutigen Syrien begannen, Pflanzen gezielt auszuwählen und als Nahrung anzubauen sowie Viehzucht zu betreiben, änderte sich ihre Lebensweise von Grund auf. Aus Jägern und Sammlern, die den Wanderrouten der Tierherden hinterher ziehen mussten, wurden sesshafte Ackerbauern, die erstmals mehr Nahrung erzeugten, als verbraucht wurde, so dass einige Dorfmitglieder vom Nahrungserwerb freigestellt werden konnten und spezialisierte Berufe entstanden. Die Anzahl der Nachkommen steigerte sich rapide, denn nun mussten die Kinder nicht mehr alt genug sein, um mit der Mutter der nomadisierenden Gruppe folgen zu können. Die Sesshaftigkeit dieser Population unserer Spezies Homo sapiens revolutionierte das. Vom Nahen Osten hatten sich Ackerbau und Viehzucht sukzessive über ganz Europa verbreitet.

Der Homo sapiens sapiens, zu dem heute alle auf der Erde existierenden Menschen gehören, war bereits in mehreren Schüben dank seiner Kulturtechniken bereits vor 50000 Jahren in verschiedene Gebiete des heutigen Europa, das durch die Eiszeit noch lange Zeit geprägt sein sollte, vorgedrungen. Hier war er auf den Neanderthaler, eine erfolgreiche Menschenspezies, die seit Jahrzehntausenden besonders gut an das eiszeitliche Kältebiotop angepasst war, gestoßen. Lange Zeit existierten beide Spezies nebeneinander. Offensichtlich waren die Populationen auch extrem klein und über die eiszeitlichen Tundren zogen riesige Tierherden. Trotz Eiszeit herrschte kein Mangel an Fleisch. Dann plötzlich verschwand der Neanderthaler vor rund 35000 Jahren spurlos von der Erde.

Spurlos? Oder hatten sich Neanderthaler und der moderne Mensch miteinander fortgepflanzt und seine Gene wirken noch immer in uns? Und was passierte mit den hier lebenden Jäger- und Sammlergesellschaften, die es bereits seit rund 40000 Jahren auf europäischem Boden gab, bevor nun der neue Typus der erfolgreichen Ackerbauern und Viehzüchter in das heutige Europa einwanderte. Wurden sie von Ihnen ebenso verdrängt wie der Neanderthaler durch den altsteinzeitlichen Homo sapiens sapiens? Stammen wir also in der überwiegenden Mehrzahl von den kulturell hoch stehenden Menschen aus dem Raum des heutigen Syrien, Irak und Iran ab? Wurden die weitaus ursprünglicher lebenden Menschen der Altsteinzeit in unserem Gebiet durch sie gar ausgerottet oder fand eine erfolgreiche Assimilation beider so konträr lebender Gruppen statt?

Diese Problemstellungen beschäftigen Wissenschaftler unterschiedliche Fakultäten schon seit langem. Die Mehrzahl der Anthropologen und viele Sprachwissenschaftler neigten anhand der Auslegung von Artefakten der These zu, dass wir wohl Nachkommen des modernen Ackerbauers aus dem Vorderen Orient seien, der aufgrund seiner durch die Sesshaftigkeit sich ergebenden Überlegenheit den technisch hoffnungslos unterlegenen Altsteinzeitmenschen verdrängte.

Gab es direkte naturwissenschaftliche Belege anstelle von Interpretationen anthropogener Kulturgüter? Dieser Frage gingen im Sommer 2015 erneut SchülerInnen eines Biologie-Leistungskurses der Martin-Buber-Oberschule an der Göttinger Georg-August-Universität nach und beteiligten sich so an einem internationalen Science-Projekt zur europäischen steinzeitlichen Besiedlungsgeschichte der Menschheit. Das Besondere an unserem Vorhaben: Die SchülerInnen führten alle molekular­genetischen Untersuchungen in einem Labor der Universität unter wissenschaftlicher Leitung an ihrem eigenen Erbgut selbst durch und werteten die Ergebnisse bioinformatorisch aus. So erfuhren sie gleichzeitig, aus welchem Clan sie selbst stammen.

IMG_8326Moderne Techniken der Genforschung steuerten in den letzten zwanzig Jahren. entscheidende Erkenntnisse zu den Fragen der Besiedlungsgeschichte und den Wanderungsbewegungen der Menschheit bei. Dazu benötigte man Gene, die nicht bei der sexuellen Vermehrung miteinander kombiniert werden und die somit die Möglichkeit eröffnen, eine Abstammungslinie bis zu ihrer Entstehung durch (eine) Mutation(en) zurück zu verfolgen. Die Entdeckung, dass Mitochondrien in den Zellen eine eigene DNA besitzen, außerhalb der chromosomalen, nukleären DNA in den Zellkernen, eröffnete die Chance, eine rein maternale Abstammung zu rekonstruieren, die von der Mutter über die (mütterliche) Großmutter, Urgroßmutter u. s. w. bis zur Urmütter führte, bei der die Mutation erstmals und damit die Abspaltung von der Ausgangspopulation erfolgte. Es war sogar möglich, den ungefähren Zeitpunkt der Entstehung relativ genau einzugrenzen und aus der heutigen Verteilung der Genfrequenzen den Entstehungsort vor tausenden von Jahren zu ermitteln. Das erstaunliche Ergebnis: 96 Prozent aller heute in Europa lebenden Menschen stammen von nur sieben Frauen ab, die als „Urmütter“ über einen Zeitraum von 35000 Jahren jeweils an unterschiedlichen Orten Europas sich aus dem gemeinsamen Genpool abspalteten und eine neue Großgruppe (Clan) gebildet haben.

Seit 2008 waren bereits viermal Schülergruppen der MBO an diesem Projekt beteiligt und lieferten durch präzises Arbeiten mit winzigen Mengen isolierter DNA Ergebnisse von erstaunlicher Präzision. Von 59 TeilnehmerInnen konnten 51 Resultate eindeutig ausgewertet werden. Obwohl es sich statistisch um eine relativ kleine Anzahl handelt, bestätigen die Auswertungen die bereits vorhandenen wissenschaftlichen Daten. Sie zeigen, dass nur rund 11 Prozent (gesamteuropäischer Schnitt 17 Prozent) der „MBO-Schüler-Population“ von jenen fortschrittlichen sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern aus dem Raum des heutigen Syrien und Iran abstammen. In über 80 Prozent haben die altsteinzeitlichen Gene der ursprünglichen Nomaden mit dem Faustkeil in uns überdauert. Die Kulturtechniken wurden also eher sukzessive weitergegeben als durch Verdrängung etabliert. Die Jäger und Sammler in den Tundren und Urwäldern, zu über 80 Prozent unsere direkten Vorfahren, haben durch die damaligen „Migranten“ aus dem Vorderen Orient viel gelernt und die Lebensweise übernommen, die den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichte.

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Unsere Untersuchungen zeigen zudem deutlich, dass nahezu alle in Europa vorkommenden genetischen Varianten in unseren Genen repräsentiert sind. Die Definition genetisch unterscheidbarer Volks­gruppen entpuppt sich als rassistisches Märchen nationalistisch gesinnter Kreise. Arische Völker oder auch „Biodeutsche“ existieren in der Realität nicht. Genetisch herrscht auch in Mitteleuropa seit Jahrhunderten Vielfalt vor und sie hat sich in der Evolution immer als wichtig für unser Überleben herausgestellt.

Urs Hartmann